Dienstag, 29. Mai 2012

Von Kultur und Verwüstung

Mein Herz schlägt für Mainfranken - und das schon seit den 60er Jahren, als es dort zu schlagen begann. Es schlägt daneben auch noch für andere Orte, z.B. für Kalifornien, wo ich gelebt habe und für Berlin, wo ich derzeit lebe. Für Mainfranken schlägt es am Längsten.
Obwohl ich schon seit bald 27 Jahren meinen Hauptwohnsitz nicht mehr dort habe, bin ich dieser Gegend treu geblieben und besuchte sie häufig - auch mit dem Flugzeug aus Amerika!

Seit einigen Jahren reise ich jedes Jahr zu Pfingsten mit meiner Familie aus Berlin zum Gertraudenfest, ein Fest zum Gedenken an die Heilige Gertraud, die im Mittelalter in Main-Spessart für einige Jahre lebte und wirkte.
Das Fest wird von der kleinen Gemeinde Waldzell ausgerichtet und, mein Kompliment an diese Gemeinde: Es ist in jeder Hinsicht das geschmackvollste Sommerfest dieser Art, das ich kenne! Gutes Essen, gute Stimmung, gute Blasmusik.
Beginnen tut das Fest mit einem Freiluftgottesdienst an der kleinen Gertraudenkapelle und ich bin mir sicher, dieser Beginn ist der Schlüssel zum Fest! Dieser Gottesdienst ist so herzig und so voll einfachem und erdverbundenem Gottesglauben. Es treibt mir jedesmal die Tränen in die Augen.
Und dann gehört dazu, dass man sich dieses Fest erwandert - die Kapelle liegt mitten im Wald!

Hier beginnt die Geschichte des diesjährigen Festes.
Unsere kleine Wandergruppe wanderte also auch dieses Jahr durch das Frischgrün der Buchenwälder, von Maintal hinauf auf die Fränkische Platte, auf dem europäischen Kulturwanderweg Waldsassengau, wie dieser alte, oft begangene Weg seit 2009 genannt wird. Es ist quasi jetzt ein Weg mit Adelstitel.

Wir genossen alles, auch die wunderbar süße Erfahrung der Wiederholung, des Wissens um das, was kommt an Wegstecke und Festgetümmel. Das machte uns froh und leicht - trotz der frühen Morgenstunde nach langer Autobahnfahrt am Vortag.
Halberwegs wurden wir aus unserer Freude jäh und brutal in eine andere Wirklichkeit geholt: Der Kulturwanderweg war an der schönsten Stelle von modernem Forstgerät auf hunderten von Quadtratmetern aufs brutalste zerstört, durchwühlt, und metertief zerfurcht.
Bäume lagen kreuz und quer, in einer Pfütze glänzte eine Öllache. Die noch stehenden Bäume, die nahezu hohnvoll mit gelben Sternen auf blauem Grund den kürzlich verliehenen Europa-Titel verkündeten, trugen tief klaffende Wunden von überbreitem Forstgerät. Alles erinnerte an Krieg und an Verwüstung.
Wir waren verstört, suchten nach Worten, rangen mit uns und konnten dann nur unserem Entsetzen Ausdruck verleihen. Dies war nicht der Amazonas, von wo uns ständig Bilder von Verwüstung erreichten, dies war mein Wald und der Kulturwanderweg zur Gertraudenkapelle!
Endlich schien die Verwüstung an einer Gemarkungsgrenze zu enden. Der Weg wurde vertraut, das Herz leichter und an der Kapelle angekommen, waren die Bilder in den Hintergrund gedrängt. Auf Bierbänken sitzend fühlten wir uns wieder wohlig vertraut und erwarteten den Beginn des Gottesdienstes.

Die kleine Glocke wurde geläutet, der Holzturm der Kapelle wackelte vom Glockenzug und das kleine Kreuz auf dem Holzdach schien ein wenig zu verrutschen.
Ein pensionierter Monsignore hielt eine launige Begrüßungsansprache und eine leidenschaftliche, geistreiche Predigt, für die ich ihn fast hätte küssen können - was man mit pensionierten Monsignores nur wohl ganz gewiss nicht tut.
Es war eine Unterrichtsstunde in der Geschichte der Urbarmachung der Jahrhunderte alten Kulturlandschaft, in der wir hier in Deutschland leben, quasi brennglasartig auf die Fränkische Platte gehalten. Der Monsignore sprach von römischem Recht und Gerechtigkeit, die mit den Mönchen um 800 in die Gegend kamen, zitierte Jesaja 32,15-19 und verwies auf den Unterschied zwischen dem Faustrecht der Wüste und der Gerechtigkeit, mit der solche Kulturlandschaft erst möglich wurde.
Er schrieb allen, die heute in dieser Gegend leben, ins Stammbuch, dass es ein hoher Wert ist, der da über Jahrhunderte geschaffen wurde und dass diese Gegend es Wert sei, gepflegt zu werden.
In mir waren die Bilder der eben durchwanderten Verwüstung - und gerne, allzu gerne hätte ich die Worte des Herrn Monsignore in alle Ohren gelegt, in deren Obhut diese Wälder liegen.
Der Gottesdienst endete mit dem Wettersegen - Halleluja, wie wunderbar! Und dann gab es Ochs und Weißwürste und Kuchen und auf dem Rückweg war ich mir sicher, ich würde all dies niederschreiben.